Diese Projektvorstellung entstand in Kooperation mit BAUMEISTER.
Die Vorarbeit zu dieser Projektpublikation entstand im Rahmen der Baukonstruktionslehre im Seminar FASSADE 4.0 an der TUK durch eine Studienarbeit von Fayuan Wang.
Lese-Zeichen
Am nördlichen Stadteingang, direkt neben dem mächtigen Barockbau des bischöflichen Ordinariats, riss man im schwäbischen Rottenburg zwei marode Altstadthäuser ab und schrieb einen Wettbewerb für eine neue Stadtbibliothek aus – als legte es die historisch stets unterm Kirchenjoch stehende Bürgerschaft auf ein Gegenüber von Wissen und Glauben an: Der preisgekrönte Entwurf setzt ein selbstbewusstes Zeichen, vermittelt aber auch. Bunt und lebendig machen ihn Bücher und Besucher.
Christoph Gunser (Kritik)
Gleich nebenan durfte Arno Lederer für die Diözese vor Jahren fast 40 Millionen verbauen, für die neue Bibliothek allerdings hatte die Stadt nur gut sechs Millionen übrig. Räumliche Opulenz und delikate Details wie beim Nachbarbau waren hier also nicht machbar. Das hatte auch sein Gutes. Obwohl Volker Kurrle vom beauftragten Büro Harris + Kurrle aus Stuttgart meint, er hätte schon gern, wie im Wettbewerb vorgesehen, einen Monolith rundum aus sichtbaren Ziegeln gebaut. Die Idee fiel dem Rotstift zum Opfer, wie der Keller und manches mehr. Kurrle ist dennoch zufrieden. Heute verströmt die gebürstete Putzfassade, changierend zwischen hellgrau und fliederfarben, einen geradezu trendigen „Shabby Chic“. Im Winterlicht kam es uns eher wie Beton vor, ein schroff gefaltetes Büchergebirge nach Art der Schweizer Schule.
Block mit Knick
So gibt es Ambivalenzen, wohin man blickt. Je nach Standpunkt des Betrachters ist der Baukörper im Stadtraum ganz unterschiedlich präsent: Dem Bischof schickt er ein bedachtes Ausrufezeichen, einen Stretchgiebel mit zwei verrutschten Zyklopenaugen, der fast dem Dom im Hintergrund Konkurrenz macht. Ein paar Schritte weiter, auf dem Platz, wickelt das Gebäude Schmal- und Breitseite zusammen ab und ist ganz lagernder Monolith. Stadtauswärts hingegen erblickt man zunächst nur ein unauffälliges, etwa hausbreites Volumen, das dem hell strahlenden Bischofsgiebel nicht die Schau stiehlt.
„Einfach und komplex zugleich“
Es war vor allem diese subtile städtebauliche Einfügung, welche die Jury überzeugte. Der Bau sei „einfach und komplex zugleich“, schrieb sie. Während die Konkurrenten mit Schaukästen und Spitzgiebeln auftrumpften, umschließen Harris + Kurrle mit dem rückwärtigen Bestandsbau einen Hof, wie zwei schützende Hände. Der Knick in der Straßenfront – er markiert etwa die vormalige Grenze der zwei abgeräumten Häuser – führt dazu, dass die Traufe gen Bischofsgiebel ansteigt und so zwischen der niedrigen Altstadtsilhouette und dem hohen Haus des Ordinariats vermittelt. Im Inneren des Blocks entsteht eine nicht gerade notwendige, aber reizvolle Passage, wie es sie im labyrinthischen Rottenburg viele gibt. Auch innenräumlich erweist sich der Knick als gelungener Kunstgriff. Zwar ist der Grundriss schmal und lang, doch lassen sich die Etagen beim Eintreten gut überblicken, da sich die leitende Außenwand einem zuwendet. Anders als geplant sitzt die Haupttreppe nicht zentral, sondern im schmalsten Gebäudeteil am Rand. So blickt, wer die vier Obergeschosse erklimmt, mehrfach hinaus auf den Bolz-Platz – nach dem Widerstandskämpfer Eugen Bolz benannt.
Nischen mit Ausblick
Überhaupt die Fenster: Es gibt eigentlich nur ein Format (2,50 auf 2,50 Meter), aber das „tanzt“ heftig aus der Reihe. Man mag das etwas modisch finden, zumal im Mauerwerksbau solche wilden Versätze nicht unbedingt ratsam sind. Doch Kurrle hält es nicht so mit Tektonik, sagt er. Die Öffnungen folgen eher dem Prinzip „picture window“: Wo es was zu sehen gibt, ein interessantes Nachbarhaus oder ein Ausblick auf die nahe Alblandschaft, die Rebhänge oder die alten Ziegeldächer ringsum, das wurde gerahmt.
*Quelle: BM 05/19 - GLAS *
Photos: Roland Halbe
Teile der Zeichnungen + Isometrie: Fayuan Wang im Seminar FASSADE 4.0 a.d. TUK
#Ostern